Der 23. Psalm gehört zu den bekanntesten Texten überhaupt. Auch Menschen, die sonst kaum etwas mit der Bibel zu tun haben, kennen zumindest den Anfang. Was genau uns im Psalm 23 anspricht und warum, darüber hat Volker Kiemle mit dem Psychologen Ulrich Giesekus gesprochen.
Herr Giesekus, warum spricht Psalm 23 so viele Menschen an?
ULRICH GIESEKUS: Aus verschiedenen Gründen. Menschen aus dem christlichen und jüdischen Kulturkreis wissen, dass David, der diesen Psalm geschrieben hat, selbst Hirte gewesen ist. Christen sehen Jesus selbst als den guten Hirten. So ist dieser Psalm mit den Kernfiguren des Glaubens direkt verbunden. Aber es gibt noch andere Dimensionen, die über den christlichen Glauben hinausgehen: Der Psalm ist ein Feuerwerk an Bildern – der gute Hirte, der gute Wirt, das Tal des Todes, frisches Wasser. Der Psalm steht so stellvertretend für alles, was wir brauchen – und gleichzeitig für alles, was uns bedroht.
Oft wird der Psalm in Krisenzeiten gebetet.
Welche Schlüsselworte und Bilder sprechen Menschen in solchen Situationen besonders an?
ULRICH GIESEKUS: Die Spannung zwischen dem »Tal des Todes« und dem »keinen Mangel haben«, das sind die Pole, die dieser Psalm zusammenbringt – und die viele Menschen in Krisen eben nicht mehr zusammenbringen: dass es im Tal des Todes eine Geborgenheit, eine Sicherheit geben kann. Stecken und Stab, zwei weitere Bilder, sind Stütze und Waffe zugleich. Auch das Psalmende – »Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen« – zeigt ja: Das Gute ist nicht immer da, aber mir immer dicht auf den Fersen. Dieses Spannungsfeld – ich verstehe Gott nicht, er ist mir fern – und gleichzeitig die Gewissheit, dass er immer da ist, das ist in Krisen wichtig: Weder soll die Krise verharmlost werden, noch verschwinden die Güte und Barmherzigkeit Gottes.
Welche psychischen Prozesse sorgen dafür, dass dieser Psalm tröstet?
ULRICH GIESEKUS: Wir wissen aus der modernen Hirnforschung, dass alles, was mit Bildern zu tun hat, unmittelbar auf die Gefühlswelt wirkt. Hirnregionen, die durch Bilder angesprochen werden, wecken sehr viel stärkere Gefühle als andere Regionen. Auch deshalb arbeiten moderne Therapeuten und Berater sehr viel mit Bildern und Geschichten: Der Einfluss von Bildern auf die automatisierten Denkprozesse – das Unbewusste – ist viel stärker als rein verbaler Zuspruch. Im Übrigen verwenden auch viele Therapeuten, die nicht gläubig sind, die Bibel als einen unglaublich reichen Schatz an starken Bildern, die seit Tausenden von Jahren Menschen beeinflusst haben.
Psalm 23 hilft also auch, wenn ich nicht an Gott glaube?
ULRICH GIESEKUS: Ja. Wobei dieser spezielle Psalm sehr auf die Gottesbeziehung hin ausgerichtet ist. Da ist es schwierig, sich ein anonymes Wesen vorzustellen, das mir zu essen und zu trinken gibt und mich mit Waffen verteidigt. Aber es gibt viele Bilder und Weisheitsliteratur in der Bibel, die bei Therapeuten sehr beliebt sind. Die Bilder sind einfach gut zu verstehen, und zwar für alle Altersgruppen.
In welchen Situationen können diese Bilder das Gegenteil auslösen?
ULRICH GIESEKUS: Es gibt natürlich Menschen, die in ihrer Lebensgeschichte religiöse Verletzungen erfahren haben, die quasi mit solchen Psalmen »meuchelnd überbibelt« wurden. Vielleicht ging es ihnen schlecht, und der Psalm wurde dazu benutzt, ihnen mangelndes Gottvertrauen vorzuwerfen und ein schlechtes Gewissen zu machen. Wenn ich als Kind etwa den Psalm 23 auswendig lernen musste, ohne einen Bezug dazu zu haben, dann habe ich daran eher unangenehme Erinnerungen. Und dennoch zeigt die Erfahrung, dass auswendig gelernte Bibeltexte in späteren Krisensituationen sehr hilfreich sein können.
In welcher Krise wäre der Psalm 23 ein billiger Trost?
ULRICH GIESEKUS: Ich würde das nicht von der Qualität der Krise abhängig machen, sondern von der Beziehung zu der Person, die in der Krise ist. Sind wir in einer Beziehung, in der wir zusammen beten und zusammen weinen können, dann kann man mit dem Psalm nichts falsch machen. Benutze ich aber den Psalm als Bonbon des Trostes, obwohl der Betroffene ein dreigängiges Menü – also viel Zeit – braucht, dann wird das nicht funktionieren. Es kommt auf die Beziehung an.
Warum können Worte überhaupt trösten? An der Situation ändern sie ja zunächst nichts …
ULRICH GIESEKUS: Worte lassen Bilder im Kopf entstehen. Und diese Bilder wirken direkt auf unsere Gefühlswelt.
Wann hat die moderne Psychotherapie die Macht der Bilder entdeckt?
ULRICH GIESEKUS: Durch Forschung und Erfahrung; zudem werden durch die Internationalisierung der Psychotherapie auch orientalische Traditionen aufgegriffen, in denen das Geschichtenerzählen ganz wichtig ist. In der westlich geprägten Psychotherapie hat sich das Arbeiten mit Geschichten durchgesetzt unter dem eher missverständlichen Begriff »Hypnotherapie«, die mit der gängigen Vorstellung von Hypnose aber nichts zu tun hat. Es geht darum, dass Menschen durch Geschichten in einen entspannten Zustand gelangen, wo sie ihre Probleme nicht rein vom Kopf her bewerten.
Wenn die Psychotherapie auf Geschichten setzt – wo bleibt dann die Analyse psychischer Probleme?
ULRICH GIESEKUS: Die klassische Psychoanalyse ist in der heutigen Psychotherapie eine kleine Nische.Aber auch dort wird mit Träumen gearbeitet. Und Träume sind ja letztlich Bilder der Seele, die helfen können, zu einem tieferen Verständnis der eigenen inneren Konflikte zu kommen. Die heutigen Psychotherapeuten arbeiten mit einem Werkzeugkasten unterschiedlicher Methoden. Und dazu gehört in der Regel eine Verbindung von bildhaften Prozessen – man kann etwa die Familie mit Playmobil-Figuren aufstellen, man kann Farben oder Musik einsetzen – und ist nicht nur »im Kopf«, sondern auch bei den Gefühlen des Ratsuchenden.
Welches Erlebnis verbinden sie besonders mit Psalm 23?
ULRICH GIESEKUS: Ich bin Musiker, und es gibt eine wunderschöne Vertonung von Keith Green »The Lord is my shepherd«. Der Refrain »Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang« hat mir in schwierigen Zeiten sehr viel Trost und Zuversicht gegeben: Egal, wie es gerade aussieht – das ist nicht das Ende und Gott hat dich nicht fallen gelassen.
Ulrich Giesekus ist Leiter von »BeratungenPlus« in Freudenstadt und Professor für Psychologie und Counseling an der Internationalen Hochschule Liebenzell. Der promovierte Psychologe ist Autor zahlreicher Bücher und Vortragsredner.
www.beratungenplus.de