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Das große Ziel kommt noch

Neu anfangen gehört zum Leben – und zum Christentum: Die Bibel ist voll von Menschen, die sich mit Gott auf den Weg machen. Was wir daraus lernen können, erzählen die Theologen Jörg Barthel und Roland Gebauer im Gespräch mit Volker Kiemle.

Viele Geschichten der Bibel handeln vom Unterwegssein und von Aufbrüchen. Welche Grundmuster lassen sich in diesen Erzählungen erkennen?

Barthel: Es gibt die großen Aufbrüche – den Auszug aus Ägypten, Abrahams Auszug aus seiner Heimat, Israels Rückkehr aus dem Exil – und die kleinen Aufbrüche: biografische Aufbrüche oder auch Feste der Erinnerung und des Neuanfangs. Dabei geht es zum einen immer darum, sich von etwas zu trennen. Das kann auch heißen, von etwas befreit zu werden – etwa aus der Knechtschaft. Zum anderen hat man ein Ziel vor Augen und macht sich auf zu diesem Ziel. Das ist bei Abraham so oder auch beim Auszug aus Ägypten: Das Ziel ist der Impuls, aufzubrechen.

Was sagt diese Betonung des Unterwegsseins über das Wesen des Christentums aus?

Barthel: Israels Geschichte im Alten Testament ist ja ein ständiges Auf und Ab – mal hat man das Land, mal verliert man es wieder. Man erreicht die Ruhe und verliert sie wieder. Das große Ziel steht immer vor Augen, es gibt aber immer wieder Wegänderungen. Unterwegssein und Ankommen sind keine Gegensätze. Vielmehr setzt jedes Ankommen ein neues Unterwegssein voraus.

Gebauer: Unterwegssein gehört zum Christentum, weil Gott mit uns und mit seiner Welt unterwegs ist und dieses große Ziel noch aussteht. Dazu gehört dieser Impuls von außen, aufzubrechen – selbst Jesus bekam ihn, als er getauft wurde. Das war für ihn der Startschuss für den Aufbruch in die öffentliche Wirksamkeit. Die Jünger werden herausgerufen aus ihrem Alltag, das Pfingstwunder ist ein Impuls von außen. Wobei der Impuls auch eine innere Wahrnehmung sein kann. Aber es ist Gott, der hier eingreift und auf sein Ziel hin ausrichtet.

Was ist das Ziel?

Gebauer: Ich denke da etwa an die Verheißung der himmlischen Ruhe, von der der Hebräerbrief spricht (Hebräer 4,1–11). Das Unterwegssein zu dieser Ruhe, von dem auch Augustin redet – »Unser Herz ist unruhig, bis es Ruhe findet in dir« – ist eine Grundstruktur des Christseins.

Barthel: Im Hebräerbrief heißt es ja auch: »Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir« (Hebräer 13,14). Das heißt, wir bleiben unterwegs. Es gibt so etwas wie eine grundlegende Fremdheit des Christen in der Welt, auch wenn er in dieser Welt zuhause ist.

Wann ist ein Christ »fertig« – oder im methodistischen Sinne »heilig«?

Gebauer: Fertig ist er nie! Unterwegssein heißt, mit Gott und zu Gott unterwegs zu sein. Natürlich kann ich an gewisse Abschnitte einen Haken dranmachen und sagen: Teilziel erreicht. Das ist wie in einer Ehe, die ja auch nie fertig ist, sondern jeden Tag neu gelebt werden will. Es gibt Phasen, wo man richtig genießen kann, es gibt aber auch Zeiten, wo man gefordert ist. So ist es im Unterwegssein mit Gott auch. Wenn ich mich in meinem Unterwegssein von Gott getragen fühle und immer neu bereit bin, seinem Ruf zu folgen: Das würde ich heilig nennen.

Heilig ist also kein Punkt …

Barthel: … sondern ein Prozess. Deshalb spricht der Methodismus von Heiligung – in der Endung »ung« steckt das Prozesshafte schon drin. Das Wachsen und Reifen im menschlichen Leben und im Glauben durchläuft verschiedene Phasen. Ein Angekommensein, eine Vollkommenheit im Sinne von »Ich bin jetzt fertig« gibt es aber meiner Meinung nach nicht. Für mich ist das Wort Vollkommenheit nur sinnvoll, wenn man es im Sinne von Ganzheitlichkeit versteht. Das bedeutet, dass ich reife zu dem, was ich bin beziehungsweise was Gott in mir sieht. Die Bibel spricht hier von Wachstum im Glauben.

Gebauer: Vielleicht kann man es auf den Begriff der Liebe zuspitzen: Ich weiß mich bedingungslos von Gott geliebt und ich liebe ihn mit meinem ganzen Lebensvollzug – für mich persönlich und mit anderen zusammen für die Welt. Das wäre Heiligung – nicht Heiligkeit.

»Ach, ich bin des Treibens müde«, heißt es in Goethes »Wandrers Nachtlied«. Wann darf ich als Christ auch mal des »heiligen Treibens« müde sein?

Gebauer: Es gibt tatsächlich Phasen, in denen ich mich müde fühle und nicht mehr weiter kann oder will. Das gehört letztlich auch zu einer ganzheitlichen Beziehung – auch zur Beziehung mit Gott. Gott hat ja auch das Wohl meiner Seele im Blick; ich darf mich auch ausruhen. Jesus hat es ja auch getan. Es ist die Herausforderung, beides, Ruhen und Treiben, in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen. Das dürfen wir lernen, und wir sollten da viel gelassener sein!

Barthel: So sagt ja auch Psalm 23: »Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führt zum frischen Wasser.« Das ist ein Psalm des Unterwegsseins, in dem das Verweilen in der Oase eingeschlossen ist. Wenn das Heilige zum Betrieb wird – in dem Wort steckt ja das »Treiben« –, dann wird es problematisch. Die Menschen in unseren Gottesdiensten sehnen sich danach, an diese stillen Oasen zu kommen, um wieder Kraft für ihren Alltag zu gewinnen. Die Erfahrung des Heiligen ist ganz wesentlich eine des Zur-Ruhe-Kommens, der Gelassenheit.

Aber nur Konsumieren geht doch auch nicht, oder?

Barthel: Die Balance ist wichtig. Ein Gottesdienst kann wie die Rast bei einer Wanderung sein: Ich unterbreche die Wanderung, gleichzeitig stärke ich mich für die nächste Etappe, auf die ich mich dann auch wieder freuen kann.

Gebauer: Ein Beispiel aus der Bibel ist der Prophet Eli-
ja: Während einer Wanderung durch die Wüste war er wirklich am Ende. Da wurde er bei einer Rast von Gott an Leib und Seele gestärkt, bis hin zu einer ganz neuen Begegnung mit Gott (1.Könige 19,1–15). Das heißt doch: Gott geht sehr auf unsere Bedürfnisse ein und baut uns auf!

Wie bricht man als Christ richtig auf?

Barthel: Aufhören ist wichtig, und zwar im doppelten
Sinn: Ich lasse etwas, wenn ich erkenne, dass ich an bestimmte Dinge gefesselt bin – schlechte Gewohnheiten, Besitz oder ähnliches. Der erste Schritt wäre, in mich zu gehen und zu überlegen, was mich davon abhält, so zu leben, wie ich es eigentlich will. Gleichzeitig steckt im Aufhören auch das Hören auf etwas anderes. Das heißt, ich lasse mich inspirieren von einem Ziel, einem Lebensentwurf, der mich reizt, etwas Neues zu tun. Das ist dann kein Zwang zur Veränderung, sondern ein Ziel, zu dem ich hinmöchte.

Viele Menschen setzen sich ja am Jahreswechsel solche Ziele. Warum funktioniert das häufig nicht?

Barthel: Wahrscheinlich deshalb, weil man es versäumt, tief genug zu fragen, was das Alte ist, das man abwerfen muss an Lasten. Wenn ich nicht wirklich bereit bin, diese Lasten abzuwerfen, dann verpufft der Aufbruch sehr schnell.

Sich messbare Ziele zu setzen und die Etappen zu planen, das ist ja auch eine Methode aus der Arbeitswelt. Wie viel von diesem Projektdenken tut dem eigenen Leben gut?

Barthel: Indem ich diese Art, mein Leben zu betrachten, auf die Bereiche beschränke, wo es sinnvoll ist. Wenn ich mein Büro zu organisieren habe, dann ist Effizienz sinnvoll. Wenn ich aber daneben nicht die andere Dimension in meinem Leben habe, die sich nicht quantifizieren und organisieren lässt, dann bin ich schnell überfordert und ausgebrannt. Für mich gehören zu dieser anderen Dimension zum Beispiel auch die Naturerfahrung oder die Kunst.

Gebauer: Wenn wir ausschließlich berechnend und planmäßig vorgehen, dann werden wir dem nicht gerecht, was Beziehung ausmacht. Beziehung ist ja nicht die Gestaltung eines Weges anhand einer Berechnung, sondern eine Herzensangelegenheit – das gilt auch für die Beziehung mit Gott. Wenn ich auf diesem Weg einen starken inneren Drang fühle, etwas zu verändern, dann ist es Zeit, neue Schritte zu tun – möglicherweise auch ohne die einzelnen Etappen zu kennen. Dabei ist der Prozess vielleicht schon das Ganze.

Der Weg ist also das Ziel?

Gebauer: Der Sinn unserer Existenz als Geschöpfe Gottes ist, mit ihm unterwegs zu sein. Da ist der Weg das Ziel. Wenn man aber Gottes ganze Geschichte mit uns Menschen ansieht, dann sind wir unterwegs zu der neuen Welt Gottes, in der die Verhältnisse ganz anders sein werden – wo die Zeit in die Ewigkeit, das eine große und letzte Ziel, überführt wird.