Am Israelsonntag war meist die Zerstörung des Tempels in Jerusalems das Thema. Warum eigentlich? Lange wurde dabei betont, was die Kirche von der Synagoge trennt. Heute erinnern wir uns besser an die Treue Gottes, die Christen und Juden gilt.
»Während der Tempel brannte, raubten die Soldaten, was sie fanden und töteten, die ihnen in die Hände fielen. Kein Erbarmen hatten sie mit dem Alter, keine Achtung vor der Würde. Kinder und Greise, Laien und Priester wurden ohne Unterschied ermordet. Unter allen Schichten wütete der Krieg, ganz gleich, ob die Menschen um Gnade flehten oder sich zur Wehr setzten.« So beschreibt der jüdische Geschichtsschreiber Flavius Josephus die Eroberung Jerusalems im Jahr 70 nach Christus. Am neunten Tag des jüdischen Monats Av zerstörten die Römer den Tempel; als wollten sie damit ihre Überlegenheit demonstrieren: »Auch euer Gott kann uns nicht stoppen!« Mit dem Auslöschen seines Tempels wollten die Römer den biblischen Gott selbst symbolisch vernichten. Das antike Judentum veränderte sich in der Folge von Grund auf.
Die Zerstörung des Tempels haben die Juden nie vergessen. Das ist doch der Ort gewesen, wo Gott wohnte. Bis heute ist der 9. Av ein Trauertag, an dem man fastet und betet. Die Schuld am Geschehen sieht Israel auf seiner Seite: »Wir haben dein Haus verwüstet durch unsere Sünden. Wir haben unsere Propheten getötet und alle Gebote übertreten, die in der Thora sind.« So heißt es selbstkritisch im Midrasch Pesikta Rabbati.
Israelsonntag: Unser Verhältnis zum Judentum
Diese Ausgabe von »unterwegs« erscheint am Israelsonntag, am 10. Sonntag nach Trinitatis. Dieses Datum liegt in der Nähe des 9. Av, an dem Juden um den Tempel trauern. An diesem Tag erinnert sich die Kirche an ihr Verhältnis zum Judentum. Lange hatte sie sich exklusiv als das neue Israel verstanden, mit dem Gott einen neuen Bund geschlossen hat. Daraus folgerte sie dann entschieden, dass damit der alte Bund vergangen sei. So wurde am Israelsonntag darüber gepredigt, wie Jesus über Jerusalem weint. Lukas beschreibt Jesus als einen, der die Katastrophe der Zerstörung des Tempels kommen sieht. Er weinte über Jerusalem: »Wenn doch auch du erkenntest zu dieser Zeit, was zum Frieden dient! Aber nun ist’s vor deinen Augen verborgen« (Lukas 19,42). Im zerstörten Tempel konnten die Menschen damals Gott nicht mehr nden. Und so sei der alte Bund auch durch den neuen abgelöst worden.
Leben von der Treue Gottes
Christen haben neu gelernt, dass Gott treu ist: Der Bund Gottes mit seinem Volk hat Bestand. Diesen Lernprozess kann man in einem Lied unseres Gesangbuches zeigen: »Nun preiset alle Gottes Barmherzigkeit! Lobt ihn mit Schalle, werteste Christenheit!« Im vorigen Gesangbuch war es die Nummer 124. Wie ging die erste Strophe dort weiter? »Er lässt dich freundlich zu sich laden, freue dich, Israel, seiner Gnaden.«
Wer ist hier Israel? Es ist die Kirche oder wie es im Lied heißt, »die werteste Christenheit«. Sie reklamiert es für sich, Israel zu sein! Im neuen Gesangbuch heißt es anders (EM 79): »Er lässt dich freundlich zu sich laden. Freu dich mit Israel seiner Gnaden.« Aus der Freude, das Israel seiner Gnaden zu sein, wird die Freude mit Israel. Das gibt dem Lied eine neue Bedeutung. Wir freuen uns, zusammen mit dem Volk Israel seine Kinder zu sein.
Als Christen teilen wir mit dem Judentum das Alte beziehungsweise »Erste« Testament mit seinen Geboten, Hoffnungstexten, den Verheißungen und Psalmen. Wir glauben an Christus, der als Jude gelebt hat und gestorben ist. Das bindet uns an das Judentum. Auch die Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 hat eine Bedeutung für uns Christen. Dass Zionisten Anfang des 20. Jahrhunderts in das damalige Palästina, in das Land der Verheißung, zurückgekehrt sind und dass später der Staat Israel gegründet wurde, ist ein Zeichen der Treue Gottes gegenüber seinem Volk. Dahinter können wir nicht zurück.
Michael Putzke