Monthly Archives: April 2017

Ein Schatz an starken Bildern

GiesekusDer 23. Psalm gehört zu den bekanntesten Texten überhaupt. Auch Menschen, die sonst kaum etwas mit der Bibel zu tun haben, kennen zumindest den Anfang. Was genau uns im Psalm 23 anspricht und warum, darüber hat Volker Kiemle mit dem Psychologen Ulrich Giesekus gesprochen.

Herr Giesekus, warum spricht Psalm 23 so viele Menschen an?
ULRICH GIESEKUS: Aus verschiedenen Gründen. Menschen aus dem christlichen und jüdischen Kulturkreis wissen, dass David, der diesen Psalm geschrieben hat, selbst Hirte gewesen ist. Christen sehen Jesus selbst als den guten Hirten. So ist dieser Psalm mit den Kernfiguren des Glaubens direkt verbunden. Aber es gibt noch andere Dimensionen, die über den christlichen Glauben hinausgehen: Der Psalm ist ein Feuerwerk an Bildern – der gute Hirte, der gute Wirt, das Tal des Todes, frisches Wasser. Der Psalm steht so stellvertretend für alles, was wir brauchen – und gleichzeitig für alles, was uns bedroht.
Oft wird der Psalm in Krisenzeiten gebetet.

Welche Schlüsselworte und Bilder sprechen Menschen in solchen Situationen besonders an?
ULRICH GIESEKUS: Die Spannung zwischen dem »Tal des Todes« und dem »keinen Mangel haben«, das sind die Pole, die dieser Psalm zusammenbringt – und die viele Menschen in Krisen eben nicht mehr zusammenbringen: dass es im Tal des Todes eine Geborgenheit, eine Sicherheit geben kann. Stecken und Stab, zwei weitere Bilder, sind Stütze und Waffe zugleich. Auch das Psalmende – »Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen« – zeigt ja: Das Gute ist nicht immer da, aber mir immer dicht auf den Fersen. Dieses Spannungsfeld – ich verstehe Gott nicht, er ist mir fern – und gleichzeitig die Gewissheit, dass er immer da ist, das ist in Krisen wichtig: Weder soll die Krise verharmlost werden, noch verschwinden die Güte und Barmherzigkeit Gottes.

Welche psychischen Prozesse sorgen dafür, dass dieser Psalm tröstet?
ULRICH GIESEKUS: Wir wissen aus der modernen Hirnforschung, dass alles, was mit Bildern zu tun hat, unmittelbar auf die Gefühlswelt wirkt. Hirnregionen, die durch Bilder angesprochen werden, wecken sehr viel stärkere Gefühle als andere Regionen. Auch deshalb arbeiten moderne Therapeuten und Berater sehr viel mit Bildern und Geschichten: Der Einfluss von Bildern auf die automatisierten Denkprozesse – das Unbewusste – ist viel stärker als rein verbaler Zuspruch. Im Übrigen verwenden auch viele Therapeuten, die nicht gläubig sind, die Bibel als einen unglaublich reichen Schatz an starken Bildern, die seit Tausenden von Jahren Menschen beeinflusst haben.

Psalm 23 hilft also auch, wenn ich nicht an Gott glaube?
ULRICH GIESEKUS: Ja. Wobei dieser spezielle Psalm sehr auf die Gottesbeziehung hin ausgerichtet ist. Da ist es schwierig, sich ein anonymes Wesen vorzustellen, das mir zu essen und zu trinken gibt und mich mit Waffen verteidigt. Aber es gibt viele Bilder und Weisheitsliteratur in der Bibel, die bei Therapeuten sehr beliebt sind. Die Bilder sind einfach gut zu verstehen, und zwar für alle Altersgruppen.

In welchen Situationen können diese Bilder das Gegenteil auslösen?
ULRICH GIESEKUS: Es gibt natürlich Menschen, die in ihrer Lebensgeschichte religiöse Verletzungen erfahren haben, die quasi mit solchen Psalmen »meuchelnd überbibelt« wurden. Vielleicht ging es ihnen schlecht, und der Psalm wurde dazu benutzt, ihnen mangelndes Gottvertrauen vorzuwerfen und ein schlechtes Gewissen zu machen. Wenn ich als Kind etwa den Psalm 23 auswendig lernen musste, ohne einen Bezug dazu zu haben, dann habe ich daran eher unangenehme Erinnerungen. Und dennoch zeigt die Erfahrung, dass auswendig gelernte Bibeltexte in späteren Krisensituationen sehr hilfreich sein können.

In welcher Krise wäre der Psalm 23 ein billiger Trost?
ULRICH GIESEKUS: Ich würde das nicht von der Qualität der Krise abhängig machen, sondern von der Beziehung zu der Person, die in der Krise ist. Sind wir in einer Beziehung, in der wir zusammen beten und zusammen weinen können, dann kann man mit dem Psalm nichts falsch machen. Benutze ich aber den Psalm als Bonbon des Trostes, obwohl der Betroffene ein dreigängiges Menü – also viel Zeit – braucht, dann wird das nicht funktionieren. Es kommt auf die Beziehung an.

Warum können Worte überhaupt trösten? An der Situation ändern sie ja zunächst nichts …
ULRICH GIESEKUS: Worte lassen Bilder im Kopf entstehen. Und diese Bilder wirken direkt auf unsere Gefühlswelt.

Wann hat die moderne Psychotherapie die Macht der Bilder entdeckt?
ULRICH GIESEKUS: Durch Forschung und Erfahrung; zudem werden durch die Internationalisierung der Psychotherapie auch orientalische Traditionen aufgegriffen, in denen das Geschichtenerzählen ganz wichtig ist. In der westlich geprägten Psychotherapie hat sich das Arbeiten mit Geschichten durchgesetzt unter dem eher missverständlichen Begriff »Hypnotherapie«, die mit der gängigen Vorstellung von Hypnose aber nichts zu tun hat. Es geht darum, dass Menschen durch Geschichten in einen entspannten Zustand gelangen, wo sie ihre Probleme nicht rein vom Kopf her bewerten.

Wenn die Psychotherapie auf Geschichten setzt – wo bleibt dann die Analyse psychischer Probleme?
ULRICH GIESEKUS: Die klassische Psychoanalyse ist in der heutigen Psychotherapie eine kleine Nische.Aber auch dort wird mit Träumen gearbeitet. Und Träume sind ja letztlich Bilder der Seele, die helfen können, zu einem tieferen Verständnis der eigenen inneren Konflikte zu kommen. Die heutigen Psychotherapeuten arbeiten mit einem Werkzeugkasten unterschiedlicher Methoden. Und dazu gehört in der Regel eine Verbindung von bildhaften Prozessen – man kann etwa die Familie mit Playmobil-Figuren aufstellen, man kann Farben oder Musik einsetzen – und ist nicht nur »im Kopf«, sondern auch bei den Gefühlen des Ratsuchenden.

Welches Erlebnis verbinden sie besonders mit Psalm 23?
ULRICH GIESEKUS: Ich bin Musiker, und es gibt eine wunderschöne Vertonung von Keith Green »The Lord is my shepherd«. Der Refrain »Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang« hat mir in schwierigen Zeiten sehr viel Trost und Zuversicht gegeben: Egal, wie es gerade aussieht – das ist nicht das Ende und Gott hat dich nicht fallen gelassen.

 

Ulrich Giesekus ist Leiter von »BeratungenPlus« in Freudenstadt und Professor für Psychologie und Counseling an der Internationalen Hochschule Liebenzell. Der promovierte Psychologe ist Autor zahlreicher Bücher und Vortragsredner.
www.beratungenplus.de

Die Ostererfahrung der Heimatlosen

7Wanderer

Wir sind Zeugen einer Völkerwanderung, die auch unsere Gemeinden und unsere Kirche verändert. Damit leben wir das Zeugnis von Ostern, sagt George Miller – weil Migranten als »Osterleute« uns daran erinnern, auf welches Ziel wir hinleben.

Wir Migranten und Migrantinnen sind Osterleute, die Exodus und Leben im Exil noch richtig kennen. Und die es leben – müssen. Ob wir die Heimat freiwillig verlassen haben oder zwangsweise unterwegs waren und jetzt hier sind: Wir alle haben manches hinter uns. Jetzt sind wir Fremde in einem fremden Land.
Wir bringen jede Menge Erfahrungen mit. Manche von uns spüren am eigenen Leib, was das heißt: Tod, Zerstörung, Verfolgung, Armut, Entbehrung, Diskriminierung.
Also all diese Begriffe, an die die Welt sich fast schon zu gewöhnen scheint. Und die Liste wird immer länger. Mut brauchen wir alle, um aufzubrechen und Vertrautes und sicheres Terrain hinter uns zu lassen. Vom »gelobten Land« sind wir so ziemlich alle gefühlt und faktisch noch weit entfernt. Was aber macht uns Wanderer dann zu Ostermenschen?
In einem EmK-Seniorenkreis war kürzlich das Thema: »Gibt es Osterhasen in Nigeria?« Hinter dem etwas humorvollen Titel verbargen sich fundamentale Fragen nach dem Inhalt unseres Osterglaubens – nicht nur aus einheimischer Perspektive, sondern auch mit der Erfahrung unserer heutigen Migrantenwelt, in der Leute kommen und gehen – mal aus eigenem Antrieb, mal weil es nicht anders geht.

Auferstehung miteinander begreifen
Was bringen diese Einwanderer und Durchreisenden uns also an Glaubenserfahrung, dass wir alle miteinander Auferstehung neu begreifen könnten? Immer wieder sind es Bibelworte des Trostes und der Zusagen Gottes, die die Menschen tragen im Ringen, Kämpfen und den ganz alltäglichen Unsicherheiten. Hebräer 6 gehört dazu: »So sollten wir durch zwei Zusagen, die nicht wanken – denn es ist unmöglich, dass Gott mit ihnen lügt –, einen starken Trost haben, die wir unsre Zuflucht dazu genommen haben, festzuhalten an der angebotenen Hoffnung. Diese haben wir als einen sicheren und festen Anker unserer Seele, der hinreicht in das Innere hinter dem Vorhang« (Hebräer 6, 18–19).
Manchen Menschen ist diese Zusage alles, was ihnen geblieben ist: Gott wird uns segnen, und wir werden dadurch dann auch anderen zum Segen werden. In das Allerheiligste hinter den Vorhang dürfen wir treten und zu unserem neuen Hohepriester vorstoßen. Inmitten von Heimatsuche und Wanderschaft sind wir schon Bundespartner und Kinder von Gottes Zusage, dass wir irgendwann frei sind von all dem, was Gottes Schöpfung zerstören will.

Zuversichtlich unterwegs
Das ist die Auferstehungshoffnung für die Osterfremden:
Dass Leute unterwegs zuversichtlich auf die Kraft und Verlässlichkeit dieses Gottes setzen – und das im Angesicht all des Negativen, des Verlusts und der Entbehrung.
Wenn der Gott von Ostern alles Schaffen und alles Werden unter seiner Kontrolle hat, dann ist das Ergebnis letztendlich immer Auferstehung und neues Leben.
Und so leben wir unseren Ruf als Wandernde. Unser Auftrag: uns auszustrecken nach der Lebenswirklichkeit »auf der anderen Seite des Kreuzes«. Machen wir uns nichts vor: Die Umsetzung dieses Auftrags erinnert oft mehr an schwierige Geburtswehen als an einen Spaziergang im Park. Aber dann wenden sich Verlust und Entbehrung in den Sieg über den Tod. Jetzt sind wir im Exil, dann sind wir daheim.
Diese momentane Zeit des Exils beschreibt der Theologe Walter Brüggemann als einen »harten und riskanten Verhandlungsprozess«. Migranten und Migrantinnen wissen, was das heißt. Wir sind wahre Meister, wenn es darum geht, im richtigen Leben immer neu verhandeln zu müssen. Als Christ brauchen Migranten einen starken Glauben, um sich inmitten des »ganz normalen Lebens« auf die andere Seite des Kreuzes auszustrecken und die Alternative schon jetzt zu leben.
Es kann bedeuten, in der einen oder anderen Situation keine Kompromisse einzugehen und stattdessen für Gerechtigkeit und Frieden aufzustehen – auch wenn es riskant ist. Das ist Osterglaube für die Fremden in einem fremden Land. Manchmal ist es ein schlichtes Nein, sich an die gegebenen Konventionen, Kultur oder Gesellschaft anzupassen, wenn das, was hier gefordert wird, mit dem Leben des Hohepriesters Christus nichts mehr zu tun hat.

Die Chancen der Wanderschaft
Aber die Wanderschaft bietet auch gewaltige Chancen für das Pfingstwunder der Osterleute. Dies geschieht immer, wenn Migranten und Migrantinnen plötzlich Teil einer gut eingerichteten einheimischen Gemeinde werden, wenn alle sich aufmachen müssen und das Gewohnte auf allen Seiten wieder frischen Wind und neues Leben spürt.
In den frühen Jahren der Kirche war das normal:
Eine Bewegung von Leuten, die unterwegs waren, lebte aus der Hoffnung und dem Zeugnis von der anderen Seite des Kreuzes. Das volle Verständnis des Mysteriums von Ostern – das war den Leuten damals wie uns heute klar – wird es erst an dem Tag geben, an dem alle Menschen nach Hause gekommen sind in Gottes Zukunft. Bis dahin sind wir unterwegs als Osterfremde in einem fremden Land und machen Erfahrungen von Passion und Ostern – manchmal beides zugleich: Auferstehungsglaube eben zwischen all diesen Zeiten.

»Jetzt ist Babylon, nicht Jerusalem«
Dieser Glaube wächst nicht automatisch oder aus purer Vernunft heraus. Der Anspruch ist hoch und fordert Menschen überall, ihre Komfortzonen aufzugeben. Migranten und Migrantinnen geben nur den Auftakt und das Thema für uns alle. Es geht nicht, den guten alten Zeiten, der verlorenen Heimat und reinen Kultur nachzuhängen und darüber vor lauter Bewahrungsmentalität die Mission zu vergessen – jetzt ist Babylon und nicht Jerusalem.
Als Osterfremde geben wir den Irrglauben auf, dass wir ohne Anderes und Neues in diesem Land das Innerste des Heiligtums auch nur ansatzweise erreichen könnten. Wir erkennen als Osterbegeisterte, dass wir als Kirche per se ein Ort der Zuflucht und Heimat für Fremde schon sind und werden und immer gewesen sind, dass Beziehungen hier nur auf gleicher Ebene gelebt werden können, Vielfalt als Reichtum geschätzt, Innovation und bahnbrechende Neuerungen willkommen sind und zum Konzept dazugehören und dass Lernen von und die Ermächtigung der Anderen einfach dazugehören. Wenn wir als Osterfremde in einem neuen Land unterwegs sind, gibt es keine Gastgeberchristen oder Migrantenchristen mehr, keine Rede von »zu laut« und »zu kalt« und »zu anders«, »zu chaotisch« oder zu »steif«, und aus den geschlossenen Vereinen wird eine Bewegung hin auf die andere Seite des Kreuzes.
Nicht zuletzt sind wir Methodisten. Und eines der Kennzeichen der Methodisten ist, dass wir unseren Glauben heraussingen. Unser Glaubensgesang handelt von der Befreiung von der langen Nacht der Ungerechtigkeit, Befreiung von dem Dunkel aller Karfreitage.
Noch sind die Dinge nicht so, wie sie einmal sein sollen, aber eines Tages wird Ostern ein Zustand, der einfach bleibt.
Und so strecken wir uns aus zur anderen Seite des Kreuzes und laden andere ein, mit uns zu singen, immer weiter – von unser aller Oster-Migranten-Geschichte.

George Miller
ist Koordinator für die Migranten- und Internationalen EmK-Gemeinden in Deutschland.