Monthly Archives: August 2018

»Im Alter meldet sich die Seele«

Bundesarchiv, Bild 183-19000-1661 / CC-BY-SA 3.0

Der Krieg hat sie geprägt. Kinder spielen in Ruinen

Am 1. September vor 79 Jahren begann der Zweite Weltkrieg. Über das Schicksal der Kriegskinder spricht Pastorin Ulrike Burkhardt-Kibitzki.

Frau Burkhardt-Kibitzki, was verbindet die Generation, die den Krieg als Kinder erlebt hat?
Ulrike Burkhardt-Kibitzki: In der Forschung geht man davon aus, dass 30 bis 40 Prozent der Kriegskinder Traumata erlebt haben, davon 10 Prozent sehr schwere. Dazu gehört auch ein großer Mangel an Geborgenheit, den die Kinder erlebten. Die Erwachsenen standen ja stark unter Druck. Die Eltern konnten ihre Kinder nicht richtig binden und schützen. In den ersten Lebensjahren ist die Bindung an die Eltern entscheidend. Aber viele Männer waren im Krieg und die Mütter konnten ihren Kindern oft nicht mehr den nötigen Halt geben.

Haben die Kriegskinder auch bestimmte Fähigkeiten entwickelt?
Ulrike Burkhardt-Kibitzki: Es herrschte bald nach dem Krieg die Stimmung: »Wir werden das schaffen! Wir beißen auf die Zähne. Keine Wehleidigkeit!« Fleiß, Disziplin, Tüchtigkeit; das war das große Credo. Aber die Seele ist bei Vielen zurückgeblieben. Sie meldet sich jetzt im Alter, oft über deren Enkel, die ihre Großeltern fragen: »Wie war das damals?« Da geschieht etwas, was die Generationen verbindet.

Seit fünfzehn Jahren brechen Kriegskinder ihr Schweigen. Warum jetzt?
Ulrike Burkhardt-Kibitzki: Das ist die Zeit, in der die Älteren aus der Generation der Kriegskinder in Ruhestand gegangen sind. Die Kriegskinder sind die 1930er- bis 1945er-Jahrgänge. Ab Mitte der 1990er-Jahre sind diese in Ruhestand gegangen. Da ist etwas hoch gekommen, was viele über Jahrzehnte verdrängt haben. Es durfte ja nicht darüber gesprochen werden. Dazu gab es damals nach dem Krieg keine Möglichkeit der Psychotherapie. Die Menschen haben einfach die Ärmel hochgekrempelt und hart gearbeitet. Sie sind fleißig gewesen und wollten es zu etwas bringen. Materieller Wohlstand hat eine gewisse Geborgenheit gegeben.
Erst als dann die Berufsarbeit weggefallen ist, sind die Erinnerungen wieder hochgekommen. Es hat seitdem zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen zu diesem Thema gegeben. Das wirkte wie ein Dammbruch und es war eine große Erleichterung für viele Kriegskinder, dass über diese Erfahrungen endlich gesprochen wurde. Man konnte jetzt sagen: »Unter uns Deutschen waren nicht nur Täter; wir waren Kinder, wir waren Opfer.« Das galt bis in die 1990er-Jahre als politisch nicht korrekt. Heute gibt es einen differenzierteren Blick.

Wo kommen die Erfahrungen der Kriegskinder in der Kirche vor?
Ulrike Burkhardt-Kibitzki: Das Thema ist in der Seelsorge wichtig, wenn Menschen sich öffnen und einfach mal erzählen wollen. In der klassischen Seniorenarbeit mit Kaffeetrinken und Nachmittagsprogramm spielt es nicht die große Rolle, weil die Erinnerungen zum Teil unter Verschluss gehalten werden in einer größeren Gruppe. Dann ist es auch eine Mentalitätsfrage, ob Menschen gerne erzählen oder nicht.

Wie kann eine Gemeinde helfen, ins Gespräch zu kommen?
Ulrike Burkhardt-Kibitzki: Der Seniorenkreis kann ein Ort sein, wo Menschen über ihre Kindheit sprechen dürfen. Es braucht dazu aber einen Raum des Vertrauens. Nicht jeder Seniorenkreis ist dafür geeignet. Man muss vertrauensvoll damit umgehen – gerade mit den schweren Erlebnissen. Manche empfinden hier auch eine Grenze: Sie wollen das Schwere, das andere in ihrer Generation erlebt haben, nicht hören, weil es sie zu sehr belastet; weil dann der eigene Schmerz, die eigene Trauer zu stark berührt wird. Das muss man respektieren.

Welche Gelegenheiten gibt es noch?
Ulrike Burkhardt-Kibitzki: Eine gute Möglichkeit ist es, den Seniorenkreis mit der Gruppe vom Kirchlichen Unterricht zusammenzubringen. Da erlebe ich es auch, dass Jugendliche fragen und hören wollen: »Wie habt ihr das damals erlebt?« Erlebte Geschichten zu hören ist immer gut, und die Senioren werden mit ihren Erinnerungen nicht allein gelassen.


Der Autor
Michael Putzke ist der Leitende Redakteur von »unterwegs«, des Magazins der Evangelisch-methodistischen Kirche in Deutschland. Dieses Interview wurde Ausgabe 2018-18 von »unterwegs« veröffentlicht.

Kontakt: redaktion@emk.de.

Zur Information
Pastorin Ulrike Burkhardt-Kibitzki ist Beauftragte für Seniorenarbeit der Evangelisch-methodistischen Kirche.

https://www.emk-bildung.de/info-seniorenarbeit.html

 

Die Generation der Kriegskinder

»Damals nach dem Krieg …«

So begannen manche Sätze meiner Eltern. Dann erzählten sie von den Hunger- und Mangeljahren nach 1945. Sie berichteten von den verunsicherten Lehrern in der Schule, die mit einem Mal etwas anderes sagten als noch vor der Kapitulation. Manchmal sprachen die Eltern in leisem Ton von den Sirenen in den Bombennächten und dem Schrecken der Tiefliegerangriffe in den letzten Kriegswochen.

Im Rückblick wird mir klar, dass diese Erinnerungen meist nur im privaten Rahmen geäußert werden konnten. Thema in der Öffentlichkeit waren in meiner Jugend lange alleine die Verbrechen der Nationalsozialisten, die ganze Länder in Europa mit Krieg und Vernichtung überzogen hatten. Heute gestehen wir ein, dass auch viele Kinder in Deutschland damals Schweres erlebt haben. Gut, dass heute darüber gesprochen werden kann.

Der Theologe und Journalist Christoph Fleischmann zeigt in seinem Artikel auf den Seiten 6 und 7 in dieser Ausgabe von „unterwegs“, wie der Krieg das Leben seines Vaters zutiefst geprägt hat. Wie viele Andere aus der Generation der Kriegskinder hat auch er erst im Ruhestand solche Erinnerungen an sich herangelassen.

Der 1. September ist ein Tag, an dem wir daran denken, dass vor bald achtzig Jahren der Zweite Weltkrieg begann. Mit dem Blick auf die Geschichte können wir einfach dankbar sein, schon so lange in Frieden zu leben.

Ihr Michael Putzke

»Freu dich mit Israel seiner Gnaden«

Am Israelsonntag war meist die Zerstörung des Tempels in Jerusalems das Thema. Warum eigentlich? Lange wurde dabei betont, was die Kirche von der Synagoge trennt. Heute erinnern wir uns besser an die Treue Gottes, die Christen und Juden gilt.

»Während der Tempel brannte, raubten die Soldaten, was sie fanden und töteten, die ihnen in die Hände fielen. Kein Erbarmen hatten sie mit dem Alter, keine Achtung vor der Würde. Kinder und Greise, Laien und Priester wurden ohne Unterschied ermordet. Unter allen Schichten wütete der Krieg, ganz gleich, ob die Menschen um Gnade flehten oder sich zur Wehr setzten.« So beschreibt der jüdische Geschichtsschreiber Flavius Josephus die Eroberung Jerusalems im Jahr 70 nach Christus. Am neunten Tag des jüdischen Monats Av zerstörten die Römer den Tempel; als wollten sie damit ihre Überlegenheit demonstrieren: »Auch euer Gott kann uns nicht stoppen!« Mit dem Auslöschen seines Tempels wollten die Römer den biblischen Gott selbst symbolisch vernichten. Das antike Judentum veränderte sich in der Folge von Grund auf.

Zerstörung des Tempels in Jerusalem. Bild von Francesco Hayez (1791-1881). Quelle: Wikimedia Commons

Die Zerstörung des Tempels haben die Juden nie vergessen. Das ist doch der Ort gewesen, wo Gott wohnte. Bis heute ist der 9. Av ein Trauertag, an dem man fastet und betet. Die Schuld am Geschehen sieht Israel auf seiner Seite: »Wir haben dein Haus verwüstet durch unsere Sünden. Wir haben unsere Propheten getötet und alle Gebote übertreten, die in der Thora sind.« So heißt es selbstkritisch im Midrasch Pesikta Rabbati.

Israelsonntag: Unser Verhältnis zum Judentum

Diese Ausgabe von »unterwegs« erscheint am Israelsonntag, am 10. Sonntag nach Trinitatis. Dieses Datum liegt in der Nähe des 9. Av, an dem Juden um den Tempel trauern. An diesem Tag erinnert sich die Kirche an ihr Verhältnis zum Judentum. Lange hatte sie sich exklusiv als das neue Israel verstanden, mit dem Gott einen neuen Bund geschlossen hat. Daraus folgerte sie dann entschieden, dass damit der alte Bund vergangen sei. So wurde am Israelsonntag darüber gepredigt, wie Jesus über Jerusalem weint. Lukas beschreibt Jesus als einen, der die Katastrophe der Zerstörung des Tempels kommen sieht. Er weinte über Jerusalem: »Wenn doch auch du erkenntest zu dieser Zeit, was zum Frieden dient! Aber nun ist’s vor deinen Augen verborgen« (Lukas 19,42). Im zerstörten Tempel konnten die Menschen damals Gott nicht mehr nden. Und so sei der alte Bund auch durch den neuen abgelöst worden.

Leben von der Treue Gottes

Christen haben neu gelernt, dass Gott treu ist: Der Bund Gottes mit seinem Volk hat Bestand. Diesen Lernprozess kann man in einem Lied unseres Gesangbuches zeigen: »Nun preiset alle Gottes Barmherzigkeit! Lobt ihn mit Schalle, werteste Christenheit!« Im vorigen Gesangbuch war es die Nummer 124. Wie ging die erste Strophe dort weiter? »Er lässt dich freundlich zu sich laden, freue dich, Israel, seiner Gnaden.«

Wer ist hier Israel? Es ist die Kirche oder wie es im Lied heißt, »die werteste Christenheit«. Sie reklamiert es für sich, Israel zu sein! Im neuen Gesangbuch heißt es anders (EM 79): »Er lässt dich freundlich zu sich laden. Freu dich mit Israel seiner Gnaden.« Aus der Freude, das Israel seiner Gnaden zu sein, wird die Freude mit Israel. Das gibt dem Lied eine neue Bedeutung. Wir freuen uns, zusammen mit dem Volk Israel seine Kinder zu sein.

Als Christen teilen wir mit dem Judentum das Alte beziehungsweise »Erste« Testament mit seinen Geboten, Hoffnungstexten, den Verheißungen und Psalmen. Wir glauben an Christus, der als Jude gelebt hat und gestorben ist. Das bindet uns an das Judentum. Auch die Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 hat eine Bedeutung für uns Christen. Dass Zionisten Anfang des 20. Jahrhunderts in das damalige Palästina, in das Land der Verheißung, zurückgekehrt sind und dass später der Staat Israel gegründet wurde, ist ein Zeichen der Treue Gottes gegenüber seinem Volk. Dahinter können wir nicht zurück.

Michael Putzke

Jetzt am Sonntag ist der »Israel-Sonntag«. Aus diesem Anlass machen wir in »unterwegs« eine Nummer zum Thema Israel.

Der Staat Israel. In den ersten Jahren wurde er existentiell bedroht, setzte sich aber durch. Viele Menschen bewundern dieses kleine und moderne Land im Nahen Osten. Es ist einem steten Wandel unterworfen und bietet gleichzeitig viel Geschichte und Kultur.

Israel löst immer wieder Diskussionen aus. Allein die Nachrichten der letzten Wochen zeigen eine große Spannweite: So rettet Israel »Weißhelme« aus Syrien aus einer aussichtslosen Lage. Was für eine humanitäre Geste! Auf der anderen Seite verabschiedet die Knesset ein »Nationalitätsgesetz«, das den jüdischen Charakter des Landes stärken soll, aber die Minderheiten im Land übergeht. Das Gesetz wird auch in Israel heftig kritisiert, es schwäche die Demokratie des Landes.

Im Heft können wir nur Ausschnitte zeigen:

Neben der Geschichte der Staatsgründung (Seiten 6 und 7) und einem Erfahrungsbericht, warum Christen gerne nach Israel reisen (Seiten 8 und 9), ist das Thema des neuen Antisemitismus bedrängend. Denn er tritt in unserem Land wieder neu auf. Hier sind wir gefordert, Stellung zu beziehen.

Ich wünsche allen viel Freude beim Lesen von »unterwegs«.

Schalom!

Ihr Michael Putzke