»Im Alter meldet sich die Seele«

Bundesarchiv, Bild 183-19000-1661 / CC-BY-SA 3.0

Der Krieg hat sie geprägt. Kinder spielen in Ruinen

Am 1. September vor 79 Jahren begann der Zweite Weltkrieg. Über das Schicksal der Kriegskinder spricht Pastorin Ulrike Burkhardt-Kibitzki.

Frau Burkhardt-Kibitzki, was verbindet die Generation, die den Krieg als Kinder erlebt hat?
Ulrike Burkhardt-Kibitzki: In der Forschung geht man davon aus, dass 30 bis 40 Prozent der Kriegskinder Traumata erlebt haben, davon 10 Prozent sehr schwere. Dazu gehört auch ein großer Mangel an Geborgenheit, den die Kinder erlebten. Die Erwachsenen standen ja stark unter Druck. Die Eltern konnten ihre Kinder nicht richtig binden und schützen. In den ersten Lebensjahren ist die Bindung an die Eltern entscheidend. Aber viele Männer waren im Krieg und die Mütter konnten ihren Kindern oft nicht mehr den nötigen Halt geben.

Haben die Kriegskinder auch bestimmte Fähigkeiten entwickelt?
Ulrike Burkhardt-Kibitzki: Es herrschte bald nach dem Krieg die Stimmung: »Wir werden das schaffen! Wir beißen auf die Zähne. Keine Wehleidigkeit!« Fleiß, Disziplin, Tüchtigkeit; das war das große Credo. Aber die Seele ist bei Vielen zurückgeblieben. Sie meldet sich jetzt im Alter, oft über deren Enkel, die ihre Großeltern fragen: »Wie war das damals?« Da geschieht etwas, was die Generationen verbindet.

Seit fünfzehn Jahren brechen Kriegskinder ihr Schweigen. Warum jetzt?
Ulrike Burkhardt-Kibitzki: Das ist die Zeit, in der die Älteren aus der Generation der Kriegskinder in Ruhestand gegangen sind. Die Kriegskinder sind die 1930er- bis 1945er-Jahrgänge. Ab Mitte der 1990er-Jahre sind diese in Ruhestand gegangen. Da ist etwas hoch gekommen, was viele über Jahrzehnte verdrängt haben. Es durfte ja nicht darüber gesprochen werden. Dazu gab es damals nach dem Krieg keine Möglichkeit der Psychotherapie. Die Menschen haben einfach die Ärmel hochgekrempelt und hart gearbeitet. Sie sind fleißig gewesen und wollten es zu etwas bringen. Materieller Wohlstand hat eine gewisse Geborgenheit gegeben.
Erst als dann die Berufsarbeit weggefallen ist, sind die Erinnerungen wieder hochgekommen. Es hat seitdem zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen zu diesem Thema gegeben. Das wirkte wie ein Dammbruch und es war eine große Erleichterung für viele Kriegskinder, dass über diese Erfahrungen endlich gesprochen wurde. Man konnte jetzt sagen: »Unter uns Deutschen waren nicht nur Täter; wir waren Kinder, wir waren Opfer.« Das galt bis in die 1990er-Jahre als politisch nicht korrekt. Heute gibt es einen differenzierteren Blick.

Wo kommen die Erfahrungen der Kriegskinder in der Kirche vor?
Ulrike Burkhardt-Kibitzki: Das Thema ist in der Seelsorge wichtig, wenn Menschen sich öffnen und einfach mal erzählen wollen. In der klassischen Seniorenarbeit mit Kaffeetrinken und Nachmittagsprogramm spielt es nicht die große Rolle, weil die Erinnerungen zum Teil unter Verschluss gehalten werden in einer größeren Gruppe. Dann ist es auch eine Mentalitätsfrage, ob Menschen gerne erzählen oder nicht.

Wie kann eine Gemeinde helfen, ins Gespräch zu kommen?
Ulrike Burkhardt-Kibitzki: Der Seniorenkreis kann ein Ort sein, wo Menschen über ihre Kindheit sprechen dürfen. Es braucht dazu aber einen Raum des Vertrauens. Nicht jeder Seniorenkreis ist dafür geeignet. Man muss vertrauensvoll damit umgehen – gerade mit den schweren Erlebnissen. Manche empfinden hier auch eine Grenze: Sie wollen das Schwere, das andere in ihrer Generation erlebt haben, nicht hören, weil es sie zu sehr belastet; weil dann der eigene Schmerz, die eigene Trauer zu stark berührt wird. Das muss man respektieren.

Welche Gelegenheiten gibt es noch?
Ulrike Burkhardt-Kibitzki: Eine gute Möglichkeit ist es, den Seniorenkreis mit der Gruppe vom Kirchlichen Unterricht zusammenzubringen. Da erlebe ich es auch, dass Jugendliche fragen und hören wollen: »Wie habt ihr das damals erlebt?« Erlebte Geschichten zu hören ist immer gut, und die Senioren werden mit ihren Erinnerungen nicht allein gelassen.


Der Autor
Michael Putzke ist der Leitende Redakteur von »unterwegs«, des Magazins der Evangelisch-methodistischen Kirche in Deutschland. Dieses Interview wurde Ausgabe 2018-18 von »unterwegs« veröffentlicht.

Kontakt: redaktion@emk.de.

Zur Information
Pastorin Ulrike Burkhardt-Kibitzki ist Beauftragte für Seniorenarbeit der Evangelisch-methodistischen Kirche.

https://www.emk-bildung.de/info-seniorenarbeit.html

 

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